Findesatz und Wortspiel – 35

„Heute ist heute.“

Der Moment, wenn sie zum ersten Mal im Jahr das Meer sieht, ist zum Festhalten schön. Dabei sagt alles am Meer ihr, dass es ums Loslassen geht. Wellen sprechen vom Kommen und Gehen. Der Wind lässt sich nicht einsperren. Der Sand ist sanft und wehend. Ihre Freude wird nicht weniger, auch mit dem Älterwerden nicht. Als Kind lief sie die letzten Meter die Dünen hinauf und rief beim Anblick der Weite und Schönheit: Hallo, Meer! Heute sagt sie es noch immer: Hallo, Meer! Sie breitet die Arme aus und atmet tief. Die Farben und die Luft legen sich um sie. Meer-Farben, nennt sie es. Das Meer färbt ab, auf alles, was es umgibt. Selbst ihre Haut leuchtet anders. Das Unwichtige verblasst, wie schafft das Meer das nur in Sekundenschnelle, fragt sie sich. Heute ist heute, scheint der Himmel zu sagen. Ihre Schuhe hat sie längst abgestreift und geht in die Dankbarkeit hinein.

Findesatz und Wortspiel – 26

„Sonst noch was?“

Sie geht ohne Ziel. Blaues gehen, so nennt sie das. Der Ort hat genau die richtige Größe, nicht zu klein, um zu wenig zu entdecken, nicht zu groß, um verloren zu gehen. Auf den Fensterbänken der für sie fremden Menschen stehen kleine Wundertüten. Es sind nicht wirkliche Tüten, doch für sie wirkt es so. Hier eine Keramikfigur, dort ein Zwerg frei von Kitsch, da eine Kiste mit Sachen zum verschenken. Eine Buchhandlung, ein kleiner Geschenkeladen, eine Galerie. Ein Vater, der sein kleines Kind so anlächelt, dass es scheint, als könne die Welt nur gut sein. Ihre Augen finden immer wieder Blumen, deren Farbspiel wie ein Gedicht anmuten. Oftmals bleibt sie stehen und lässt sich verzücken. Verzücken ist ein Wort, das sie sich selbst nicht sagt. Doch auch ohne das Wort zu sagen, fühlt sie genau das. Ein Hund bellt weit entfernt. Selbst sein Bellen klingt geruhsam. Morgen wird sie woanders sein. Doch sie weiß, dass sie viel mitnimmt, innerlich sammelt. Stückchenweise wird es sich in ihr ausbreiten. Sie kommt an einem Café vorbei. Am geöffneten Fenster sind Bestellungen möglich. Sie bestellt einen Cappuccino mit Hafermilch. Sonst noch was, fragt der Barista freundlich. Sie verneint. Auf der Bank vor dem Café trinkt sie ihr Getränk, Lounchmusik dringt von innen hinaus. Sie fühlt sich zeitlos. Nein, sonst nichts, denkt sie, ich brauche nichts anderes. Der Cappuccino, sie auf der Bank, die leisen Töne, das reicht. Manchmal ist es eben nicht zu schön um wahr zu sein. Dann ist es schön. Und wahr.

7. Mai – Findesatz-Gedicht

Wie wir in die Welt blicken
wirkt sich auf unseren Alltag aus
wie unsichtbare Fäden
die unseren Tag durchweben
Lass uns mit dem Blick der Zuversicht
in den Morgen sehen
Lass uns nicht aufhören
das Gute zu pflücken
Lass uns am Abend still werden
der Stille zuhören
und leise danken

Findesatz-Gedicht 119

Der Morgen weckt mich
Das geöffnete Fenster zeigt wie der Wind heute spricht
Kaffeegeruch küsst die Nasenflügel
während die Zeitung auf dem Tisch liegt
mit Nachrichten, die mich fragen lassen
warum wir Menschen so sind
Die Terrasse empfängt meine nackten Füße
und die Kastanie wirft die ersten Blätter ab
Die Schmerzen sind nicht fühlbar
Nebenan erzählen Hühner einander Geschichten
Verschwommenes vom Traum wohnt noch auf meiner Haut
Ich blicke in den Himmel
Ich strecke mich dem Tag entgegen
Ja, juchhu, ich lebe!