Findesatz-Gedicht 151

Ich sah das herbstliche Blatt
spürte das Geheimnis der Vergänglichkeit
Der Baum ließ mich anhalten
und seine Stärke fühlen
Beim Blick nach oben
lachte die Frische des Himmels
Mein Fuß stieß an einen Stein
ihn aufhebend
fühlte ich seine Kanten und Weichheit
Bei den Schneebeeren wusste ich
dass das Kind immer in mir wohnt
Ich ging den Bach entlang
sah seinen eigenen Lauf
Ich besuchte heute keine Schule
keinen Kurs und erhielt kein Zertifikat
und lernte viel
Mir war
als spürte ich etwas von den Wundern
den großen
die uns halb schwindelig machen
Was nicht in uns ist
kann uns auch nicht berühren

Findesatz-Gedicht 150

Als mein Vater 80 geworden ist
hat er gesagt
nun habe er die Hälfte erreicht
In den geschenkten Jahren
die danach folgten
verlor er einiges
Seine Brille
Seinen Schlüssel
Eines Tages seinen Führerschein
Seine Telefonnummer
Seinen besten Freund
Manchmal auch sich selbst
Seinen Humor
verlor er nie

Findesatz-Gedicht 149

Eine Lieblingsblume
Lieblingstee
Apfelkuchen mit Zimt
Lesen im Lieblingssessel
das schenke ich mir
Das Telefon überhören
Keine Nachrichten an diesem Tag
Das Gute sehen
An die Hoffnung glauben
das schenke ich mir
Annehmen was ist
Loslassen
Ausgeglichenheit atmen
Mir alles zutrauen
das schenke ich mir
Kreativ sein
Kind sein
Weise sein
Genügen
das schenke ich mir
Tanzen in der Küche
Nicht an Morgen denken
Unvernünftig sein
Wunder küssen
das schenke ich mir

Findesatz-Gedicht 148

Sie sah die Bäume
Jeder zeigte sich anders
trug seine eigene Schönheit
und sein eigenes Inneres
Waren einander nahe
und ließen Raum
Kein Baum verbog sich
um wie der andere zu wirken
Eingebettet zwischen Himmel und Erde
Ganz sie selbst
Jeder auf seine Art und Weise

ABC-Etüde

Gerne habe ich mich wieder einmal von Christiane zu den ABC Etüden für die Textwoche 46/47 2021 einladen lassen. 
Dabei gilt es, drei vorgegebene Wörter in einen Text mit maximal 300 Worten einzubauen.
Die diesmalige Wortspende stammt von Heidi mit ihrem Blog Erinnerungswerkstatt und lautet:
Museum / biografisch / erinnern

Hier kommt meine Etüde:

Es ist Sonntag. Die Blätter verfärben sich, viele ruhen schon auf dem Boden. Sie mag das Geräusch, das ihre Füße beim Berühren des Laubs verursachen. Herbstmusik, so nennt sie es leise. Wenige Leute sind heute hier. Sie schlendert und bleibt vor einer Skulptur stehen, die den Namen „Die Lesende“ trägt. Jemand hat Herbstastern auf den Kopf der Skulptur gelegt, als trage die lesende Frau einen Blumenkranz.
Wie gerne ist sie hier. Dieses Museum im Freien, das eine Wohltat für ihre Sinne ist. Es ist einer ihrer Lieblingsorte. Zu allen Jahreszeiten kommt sie her. Kunst und Natur reichen sich an diesem Ort die Hand.
Sie kann sich daran erinnern, wann sie das erste mal hier war, es war als Kind mit ihren Eltern. Seitdem ist sie häufig hier. Die Wege kennt sie auswendig, doch gibt es immer Neues zu entdecken.
Die Frau betritt einen der Räume, die sich in die Natur einbetten, und betrachtet die dortigen Gemälde an den Wänden. Die Bilder des Künstlers sind biografisch angeordnet, das, vor dem die Frau nun stehen bleibt, malte er mit 80 Jahren. Es zeigt eine alte Frau, die aufschaut. Sie kennt das Bild schon, es zieht sie immer wieder in ihren Bann. Es ist der Blick der gemalten Frau. Als hätte die alte Frau alle Erfahrungen der Welt eingeatmet und mit ihren Augen festgehalten. Vielleicht muss jemand selbst viel erlebt haben, um so malen zu können, denkt die Frau beim Betrachten.
Schließlich löst sie sich von dem Bild und geht draußen weiter. Sie spaziert zum See, der sich mitten auf dem Museumsgelände befindet, und setzt sich auf die Bank. Die Rosen, die die Bank umrunden, sind welk, doch bereit, im nächsten Frühjahr erneut zu blühen. Die Frau atmet die Luft tief ein. Sie ist glücklich, einfach nur glücklich.